Warum gemeinsame Forderungen wichtig sind und: hören wir auf uns zu schämen, weil wir Hilfe brauchen!

 

Zu viele von uns sind sehr verzweifelt, verbittert und verärgert nach jahrzehntelanger immer wieder kehrenden Demütigungen und Misserfolgen.

Man merkt das an zwei Trends. Die einen, die uns vertreten wollen, sind zu zaghaft und zu verschwiegen, die anderen wollen mit dem Kopf durch die Wand. Das, was wirklich wichtig ist, kommt viel zu kurz: die Verbesserung der Leben von jedem einzelnen von uns!

Neulich erzählte mir jemand, er hätte sich mal die Hand gebrochen, aber die Leute im Krankenhaus hätten nicht gemerkt, dass die Person dadurch vorübergehend völlig hilflos wurde. Sie wurde nach Hause geschickt. Der Pflegedienst wollte erst nach ein paar Tagen kommen. Die Person dachte tatsächlich über Selbstmord nach. Sie sitzt außerdem im Elektro-Rollstuhl. Wenn der kaputt ist, kann sie nicht mehr alleine auf die Toilette. Wenn der Rollstuhl am Wochenende kaputt geht, kann die Person unmöglich bis Montag warten, wenn der Pflegedienst Zeit, und die Werkstatt wieder auf hat!

Ich habe so was auch schon zwei mal erlebt. Das waren Zeiten der Angst!!!

Jetzt mal ganz im ernst: wie kann man so etwas erstens übersehen und den Zugang zu Behindertenparkplätzen fordern? Wie kann man zweitens mit idealistischem Blabla daherkommen? Das geht doch nicht! Die Homepage des Bundesverbandes sah bis vor einiger Zeit noch aus, als hätte sie die Pressesprecherin der Grünenthal persönlich geschrieben, die privat übrigens mit uns mit fiebert, was im Fernsehen neulich ärgerlicher weise für uns anders aussah. Auf anderen Homepages findet man dagegen Boykottaufrufe. Es ist schon besser geworden, aber, wer uns vertreten will, der muss sich mehr anstrengen!

Wir haben jahrzehntelang versucht, unsere Mitmenschen in Watte zu packen. Das betrifft unsere Probleme ebenso, wie unsere Normalität als Menschen. Hier müssen wir ansetzen. Jede Lebensgeschichte, die geschrieben wird ist wichtig! Es sind genau diese aufgeschriebenen Geschichten, die unseren Mitmenschen nicht nur zu Herzen gehen, sondern auch den Politikern den Weg zeigen. Wir müssen uns zeigen, denn, woher wollen die Menschen wissen, was wir brauchen, wenn wir schweigen?

Etwas zur Grünenthal. Auf meinem Diskussionsvorschlag zu 7 gemeinsamen Punkten habe ich das zwar erwähnt, aber bewusst nichts genaues vorgeschlagen. Das soll uns nämlich eine Messlatte sein, für die Frage, wie wir vertreten werden. Die Sache ist nämlich kompliziert. Wer die Familie Wirtz in Watte packt oder blind angreift macht sich an den Opfern schuldig.

Wenn die Mitglieder der Familie Wirtz etwas vernünftiges tun wollen, dann sind 50 Millionen natürlich ein schlechter Scherz. Was sie sonst noch tun, müssen sie öffentlich machen. Die Familie Wirtz kann nur den Weg nach vorne antreten, will sie nicht nur ihr Gesicht waren, sondern auch 5000 Arbeitsplätze retten. Wir haben in über tausend E-Mails etwas über uns erzählt, jetzt ist die andere Seite dran, sich vorsichtig zu öffnen.

„Die haben das doch nicht mit Absicht getan", so meinte Professor Paul Löwenhauser, als ich ihn neulich besuchte.

Er hat einen contergangeschädigten Sohn und vor über 40 Jahren den Elternverein in Bayern gegründet. Wenn man sich mal vor Augen hält, was unsere Eltern damals durchgemacht haben, dann ist diese Haltung bemerkenswert.

Schauen wir uns doch mal die andere Seite genauer an. Dr. Michael Wirtz, der bis vor ein paar Jahren die Firma geleitet hat, musste als junger Mann zusehen, wie sein Vater immer kränker wurde und schließlich an einem Magengeschür starb. Er hat den Stress nicht ausgehalten. Wenn der Vater stirbt kann man so erwachsen sein, wie man will. Es tut sehr weh. Wahrscheinlich war Michael Wirtz auch erst mal wütend auf die Contergankinder und deren Eltern, bis er sich wieder gefangen hatte. Dann, die haben sich über 30 Jahre sehr geschämt und wir haben darunter gelitten!

Die andere Seite muss sich langsam und vorsichtig öffnen und anfangen zu erzählen. Vielleicht wird uns Michael Wirtz eines Tages unter Tränen von damals erzählen. Wir werden dann mehr von dem erfahren, was damals wirklich passiert ist und wer da alles Schuld auf sich geladen hat. Nur zur Erinnerung: Widukind Lenz hat nur ein paar Standardfragen gestellt. Warum haben die Ärzte in den Krankenhäusern das nicht schon lange vorher getan? Das hätte viel Leid verhindert.

Es ist richtig, wenn sich die Familie Wirtz endlich mal bemüht, uns wirksam zu helfen. Das wird auch viel mehr als 50 Millionen Euro kosten. Da wir davon profitieren würden, kann es uns auch egal sein, dass eine wirklich großzügige Hilfe die Firmenumsätze auf die Dauer nach oben gehen lassen wird. Menschlichkeit zahlt sich nämlich aus, aber man muss schon was dafür tun!

Mein Vater ist schon lange tot, meine Mutter ist dement im Altersheim, meine beiden Schwestern dagegen leben noch. Wenn uns, den Conterganopfern endlich wirksam geholfen wird und wir mit der Familie Wirtz so viel Frieden schließen, wie es eben möglich ist, dann ist das auch für unsere Eltern, Geschwister und Freunde ein Stück Gerechtigkeit, Friede und Erleichterung. Ich denke manchmal an die Familie, in der ich aufwuchs. Der Gedanke, dass die es verdient haben, dass es mir gut geht, trotz Contergan gibt mir zusätzlich Kraft – natürlich auch die 2700 Menschen in Deutschland, die viel mehr Geld, Hilfe und Anerkennung brauchen.

Da sind drei Gruppen, die uns vertreten wollen. Sie haben die Pflicht, sich endlich an einen Tisch zu setzen und ein 7-Punkt-Programm oder etwas vergleichbares zu vereinbaren. Manche von denen benehmen sich bis jetzt, als ob es um Macht und Ansehen ginge. Denen sei mal ganz deutlich gesagt, dass wir immer in den Augen unsere Mitmenschen „Behinderte" bleiben werden. Die Sieger der Behindertenolympiade werden fast nicht beachtet. Nur die „normalen" Olympiasieger erhalten Ruhm und Ehre. Behinderte Sportler werden nur kurz bewundert und dann vergessen. Hier gibt es keinen Ruhm zu ernten!

Ich will noch ein paar seltsame Dinge im Umgang unserer „Vertreter" der letzten Monate erzählen. Da wollte ich wissen, ob es in England ein vergleichbares Sozialsystem gibt: keine Antwort! Dann wollte ich von einem Bayerischen Funktionär wissen wie es in Italien und Spanien wirklich zu geht. Er erklärte mir, es gäbe nur ein paar Conterganopfer in Italien und die würden vom Bayerischen Landesverband vertreten. Nadia Malavesi vom italienischen Verband rief mich neulich an. In Italien wurden etwa 700 Contergankinder geboren. 120 Opfer sind noch am Leben und 70 davon sind im Verband organisiert. In Italien gibt es keine Entschädigung! Da die Überlebensrate etwa 50% betrug, wollte ich wissen, was mit den anderen passiert ist. Die Antwort: sie wurden nach der Geburt ermordet! Ein anderer Kommentar vom Bundesverband am Telefon war: „Was gehen uns die Opfer in Spanien an?" Ich schicke Frank einen Brief des früheren Bulgarischen Ministerpräsidenten an mich. Ich denke, nämlich, dass uns das schon was angeht. Contergan wurde in Deutschland erfunden!

Unsere Funktionäre müssen sich wirklich Gedanken machen, wie sie uns vertreten. Wenn der Bundestag das in die nächste Legislaturperiode verschiebt, dann dauert es noch mal länger – und die Not vieler ist groß! Schalten wir uns ein, reden und arbeiten wir mit, und zwar konstruktiv.

Noch ein Gedanke zum Schluss. Gandhi hat Indien ganz ohne Armee von der Kolonialmacht England befreit, und die Mauer zwischen Ost und West ist durch die Menschlichkeit gefallen, ganz ohne Gewalt. Wir haben das Gesetz, die Menschlichkeit und die Vernunft auf unserer Seite. Hören wir auf, uns zu schämen, weil wir mehr Geld brauchen. Wir haben uns lange genug geschämt!

Christian G. Knabe