Mühldorf, meine Heimat

 

Der „Pfeiffa Miche", kurz „da Pfeiffe" genannt war eines jener Originale, wie sie in meiner Heimat Mühldorf am Inn typisch sind. Er war ein dünner alter Mann in einem brauen bäuerlichen Sonntagsanzug, der mit seinem Krückstock durch die Stadt spazierte. Man konnte ihm überall begegnen. Immer, wenn er ein Kind Pfeifen hörte, wurde er wütend und lief dem Kind, den „Hackelstecken" schwingend hinterher. Manchmal warf er dem Kind auch seinen Stock nach. So manches Mädchen oder Junge hat der alte Mann tatsächlich getroffen, einige sogar verletzt.

Nach seinem Tod schrieb die Band „Schnabuvugl" ein Lied über ihn „als Nachruf. Der alte Mann hatte im Krieg seine Familie bei einem Bombenangriff verloren. Seit diesem Schrecklichen Erlebnis bekam er große Angst, wenn er jemand Pfeifen hörte. Es erinnerte ihn an den Klang der Bomben, als sie aus dem Flugzeug heraus auf die Stadt fielen.

Ein anderer Rentner, lauerte regelmäßig den Schülern der Mühldorfer Grund- und Hauptschule auf. Immer, wenn jemand seiner Meinung nach etwas Unanständiges getan hatte, lief er zu dessen Lehrer um zu petzen. Mich hat er auch mal angeschwärzt. Ich hätte mit einem Gewehr auf Vögel geschossen. Wie das mit einem Spielzeuggewehr hätte gehen sollen, verstand er wahrscheinlich selber nicht.

Sie sehen schon, Kind sein in einer oberbayerischen Kleinstadt zu sein, ist schwer. Man ist von diversen Moralaposteln umgeben. Die katholische Moral wie sie auch Ludwig Thoma beschrieben hat, ist dort durchaus noch lebendig. Als Kind muss man da erst mal die Theorie aufstellen, man sei schlecht und ein potentieller Verbrecher. Viele Erwachsen glauben diese Theorie immer noch und feiern ein kleines Vergnügen wie den erfolgreichen Coup eines Verbrechers.

Ich war ja nun evangelisch getauft, was bedeutete, dass ich lange nichts über den katholischen Kathechimus wusste. Die evangelischen Kinder waren im Religionsunterricht von den katholischen getrennt. Ich hatte damals das Gefühl, der brave Katholik begeht eine Sünde um sie später dem Pfarrer zu beichten. Alles was irgendwie menschlich ist, ist verboten. Das hat zur Folge, dass der brave Katholik immer empfindlich ist und ein schlechtes Gewissen hat, das er zu verbergen sucht.

Auf dem Gymnasium gab es einen katholischen Religionslehrer, sein Spitzname war „Blacky", der wollte uns Evangelischen auch nichts preisgeben von dem Geheimnis des katholischen Sündenregisters. Immer, wenn der evangelische Religionsunterricht ausfiel, und wir in seinem Unterricht sitzen mussten, zog er das Buch „Lausbubengeschichten" von Ludwig Thoma hervor und las daraus. Eines Tages musste er aber dann doch im Stoff weiterkommen, und wir erlebten eine Vorführung der offiziellen Kirchenmeinung zum Thema Todesstrafe. Sie lautete, die Todesstrafe sei legitim. Klar, ein Henker kann ja nachher zum Beichten gehen.

Als einige von uns „Evangelischen" die Bergpredigt zitierten und die Meinung äußerten, dass die Todesstrafe doch unmoralisch sei, mussten wir den Unterricht verlassen. Zur Ehrenrettung der Katholischen Religionslehrer sei gesagt, dass einer der Mühldorfer Vertreter dieser Spezies einen Sportwagen fuhr und wegen seiner Frauengeschichten berühmt war. Auch seine Schüler mochten ihn – wohl wegen seiner realistischeren Lebenseinstellung.

Ich begann diese scheinheilige Verbrechermentalität, die eine Folge meiner katholischen Umgebung war, wieder abzuschütteln, als ich mit dabei war als eine Gruppe Kinder aus meinem Viertel beschlossen hatte, Äpfel zu stehlen. Angeführt von den Ältesten stiegen wir durch eine Lücke im Zaun auf das Grundstück vom Kirgisner Bauern. Das taten wir öfters im Herbst. Es war so eine Art Mutprobe. Der Apfelbaum stand direkt am Zaun. Oft waren um ihn herum lauter Schweine, zwischen denen die Äpfel auf dem Boden lagen.

An jenem Tag sah uns der Bauer. Er kam mit den Armen winkend auf uns zu.. Alle anderen waren schon längst weg, ich aber war zu langsam. Ich schloss schon beinah mit meinem Leben ab und stellte mir vor, was mein Vater sagen würde, erführe er von seinem Apfeldiebstahl. Als der Bauer bei mir war, entschuldigte ich mich für den Diebstahl. Da fing der Bauer an zu reden: "Der Baum ist sowieso nur noch für die Schweine. Du kannst soviel Äpfel nehmen wie du willst. Die besten Äpfel sind die roten, da, ganz oben." Dann nahm er einen heruntergefallenen Ast und warf ihn in den Baumwipfel, dort wo die rotesten Äpfel in der Herbstsonne leuchteten. Während er mir die Äpfel vom Baum holte, erzählte er, wie er ihm sein Vater den Apfelbaum gezeigt hat.

Da ich von nun an jenen Apfelbaum offiziell plündern durfte, also meine kindliche <Verbrecherkarriere> abrupt beendet. Ich habe nie wieder so viele Äpfel gegessen, wie an jenem Nachmittag als ich stolz auf die anderen wartete. Für einen Tag lang war ich auch für die Größeren eine Respektsperson.

Ich habe viele solche Geschichten erlebt, aber meine Heimat würde das nur unvollständig beschreiben. Die Mühldorfer sind besondere Menschen und das merkt jeder, der dort länger lebt. Einen möchte ich herausgreifen, um die besondere Gemeinschaft zu beschreiben.

Siegfried Stiegler war Besitzer eines Fahrradgeschäftes und der letzte Wandergeselle in Deutschland, als die Nazis das Land zerstörten. Er landete unter anderem bei Messerschmitt und war Prüfer für das Leitwerk des ersten Düsenjägers. Er war stolz, dass im deutschen Museum eine Urkunde hängt, auf der steht: „Das Leitwerk ist geprüft und für in Ordnung befunden, Siegfried Stiegler." Bei diesem Mann hat außerdem die halbe Jugend der Stadt Motorradfahren gelernt.

Er hatte sein Geschäft seinem Sohn übergeben und sich in seine Erfinderwerkstatt in seiner Garage zurückgezogen, als er einen Spastiker mit einem Kinderwagen vorbeigehen sah. Der junge Mann hatte die Schule beendet und war nun zu seinen Eltern regelrecht abgeschoben worden. Weil er den ganzen Tag nichts zu tun hatte, schnappte er sich jenen Kinderwagen, damit er nicht umfallen konnte und ging Spazieren.

Siegfried Stiegler sah ihn nun mit seinem klapprigen Gefährt den Weg entlang schlürfen. Es packte ihn sein Mitgefühl. Er baute ihm aus einem Fahrradanhänger etwas Besseres: einen richtigen kleinen Wagen, an dem sich der Spastiker festhalten konnte und der nicht mehr umfallen konnte.

Seine Konstruktion war gut und der junge Mann machte lange Spaziergänge. Mit der Zeit wurde er ein wenig berühmt in den Dörfern rings rum. Er bekam oft etwas mit, zum Beispiel ein Ersatzteil für die Autowerkstatt ein paar Kilometer weiter. So verdiente er sich ein paar Mark. Er war glücklich.

Doch dann kam eine Anzeige bei der Polizei. Der junge Mann sei eine „Verkehrsgefährdung", wenn er so von Dorf zu Dorf spaziere. Außerdem habe sein Handwagen weder Licht noch Bremsen. Der Stiegler hat ihm einen neuen Wagen gebaut mit Licht und Bremse, aber es hat nichts geholfen. Der junge Mann, der nur spastisch gelähmt war, wurde per gerichtlicher Anordnung in ein Heim eingewiesen. Er hat gebrüllt wie am Spies, als sie ihn abholten.

In einem anderen Fall waren die Mühldorfer erfolgreicher. Ein Haus war abgebrannt und eine Großfamilie hatte ihr Dach über dem Kopf verloren. Die Mühldorfer fingen sofort an zu sammeln. Es dauerte nicht lange und die Familie hatte viel mehr Kleider, Möbel und was man sonst so braucht, als sie jemals besessen hatte.

Nun wollte man im Sozialamt die Unterstützung für die Großfamilie streichen. Durch die Stadt rollte eine Welle der Empörung. Die Leute waren so wütend, dass der Landrat seinen Sozialamtsleiter zurückpfiff. Von dem gesammelten Geld hat die Familie wieder ein neues Haus bekommen.

So ist meine Heimat. Und wenn Sie einmal dorthin fahren sollten, dann beachten Sie folgendes: Wenn Ihnen jemand mit freudig strahlenden Augen einen „guten Morgen" wünscht, dann meint er das ernst. In Mühldorf liebt man einander.